💬 | Interview mit Michael Gassner
Michael Gassner, geboren 1969, ist ein renommierter Experte im Bereich Islamic Finance. Er lebt und arbeitet in Genf und ist hauptberuflich als Head of Islamic Finance einer Schweizer Privatbank tätig. Darüber hinaus ist er Mitglied des Scharia Boards der Bosna Bank International in Sarajevo. Nach einer Bankausbildung und einem Wirtschaftsstudium, in dem er sich auf Finanzierung, Marketing und Wirtschaftsgeschichte spezialisierte, lernte er Arabisch und verbrachte ein Auslandssemester in Damaskus. Seine berufliche Laufbahn begann er in der ‘New Economy’, bevor er sich auf Islamic Finance spezialisierte.
Sein Buch “Islam, Geld und Wohlstand”* ist ein umfassendes Handbuch über Finanzen und Vorsorge im Kontext des Islams. Es richtet sich an eine breite Zielgruppe und zielt darauf ab, zur Finanzbildung deutschsprachiger Muslime beizutragen. Das Buch deckt eine Vielzahl von Themen ab, von Abzahlungskauf bis Zinsverbot, und bietet praktische Ratschläge zur Umsetzung der eigenen Finanzen im Rahmen des Islams.
Auf der Webseite www.IslamicWealthManagement.com ist zudem ein Chatbot auf der Basis von ChatGPT 4, der kostenlos Fragen zum Inhalt des Buches beantwortet.
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Hallo Herr Gassner,
Ich möchte mich zunächst bedanken, auch im Namen der Community, dass Sie sich die Zeit nehmen und sich dazu bereit erklärt haben uns im Rahmen von „fondsgebundenen Lebensversicherungen“ aufzuklären. Eine generelle Einführung in das Thema aus Sicht der Scharia geben Sie bereits in Ihrem Buch*. Lebensversicherung sind grundsätzlich kritisch zu betrachten, gewisse Punkte führen dazu, dass diese als “nicht erlaubt“ eingestuft werden. Zwei dieser Kriterien, die ich ihrem Buch entnehmen kann, wären: Garantiezins (selbsterklärend) und die monatliche Rente auf Lebenszeit. Zeitgenössische Gelehrte sollen eine ablehnend Haltung gegenüber Letzteres haben und werten dies aufgrund der Unbestimmtheit bei der Rückzahlung als Gharar und Riba.
Bei „fondsgebundene Lebensversicherungen“ scheinen diese Punkte auf den ersten Blick aber umgangen zu sein:
Zum einen umfasst diese keine Garantiezahlung, sprich der Kunde trägt das vollständige Risiko und die Auszahlung hängt von der Wertentwicklung des Fonds/ETFs ab. So wäre es, nach meinem Kenntnisstand durch ein Gespräch mit einem Versicherungsmakler, möglich auch Scharia-konforme Produkte darüber zu sparen, so bspw. auch die Islamic-ETFs von iShares. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, je nach Produkt, auch eine Einmalzahlung bzw. Übertragung der Fonds oder ETFs in ein eigenes Depot statt einer monatlichen Rente zu erhalten.
Wie bewerten Sie das Ganze? Woraus ist noch zu achten? Stellt die Auszahlung der Versicherungssumme im Todesfall eine Hürde dar?
Michael Gassner:
“Zunächst noch einen Schritt zurück: Im Islam sollen wir für unsere Familien vorsorgen und im Falle unseres Todes für mindestens ein Jahr Reserven hinterlassen. Von daher ist der Gedanke einer Lebensversicherung im Rahmen einer echten Solidargemeinschaft verdienstvoll. Allerdings: Sie haben recht, dass die Gelehrten mehrheitlich bestimmte Aspekte von Lebensversicherungen kritisch betrachtet, insbesondere den Garantiezins und die monatliche Rente auf Lebenszeit. Diese Elemente können als Riba (Zinsen) und Gharar (Unsicherheit) angesehen werden, die beide im Islam verboten sind. Die Auszahlung im Todesfall wird daher grundsätzlich als nicht islamkonform im Rahmen einer kommerziellen Versicherung betrachtet. Bei einer genossenschaftlich organisierten Versicherung wäre dies hingegen anders betrachtet und von einer Fatwa des OIC Fiqh Komitee gedeckt. Allerdings sind die deutschen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit regulatorisch gehalten, den sogenannten Deckungsstock risikoarm und damit im hohen Umfang verzinslich anzulegen. Dies spräche gegen eine allgemeine Erlaubtheit. Islamische Rechtsgutachten, ob z.B. eine Berufsunfähigkeitsversicherung eines solchen Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit trotz der Zinskomponente auf Basis einer allgemeinen Notwendigkeit akzeptiert, werden könnten, gibt es bislang noch nicht. Aufgrund der generellen Empfehlung zu einzelnen Versicherungsprodukten von unabhängigen öffentlichen Stellen wie den Verbraucherzentralen, erscheint mir dieses Argument jedoch stichhaltig. Die Mindermeinung erkennt kommerzielle Versicherungsverträge als eine Form der Solidarität an, bekannt hierzu sind der Gelehrte Mustafa Zarqa und in Deutschland vor allem die Diyanet. Aus meiner persönlichen Sicht sollten Gelehrte Stellung nehmen, inwieweit die wichtigen Versicherungen in Deutschland wie Privathaftpflicht (hier inzwischen islamkonforme Variante durch die KT Bank Gruppe „Techafull.com“), Berufsunfähigkeit und Absicherung der Familie im Todesfall durch eine Risikolebensversicherung akzeptable wären.”
Unabhängig davon, ob die Auszahlung an Hinterbliebene Scharia-konform ist oder nicht, stellt diese Versicherungssumme in meinen Augen keinen Vorteil gegenüber einen ganzen normalen eigenen Sparplan über einen Broker dar. Sie hatten bereits bei meiner ersten Kontaktaufnahme bzgl. des Themas bereits erwähnt, dass die Versicherungssumme geringer sein muss als die Einzahlung. Bei einem ganz normalen Sparplan über einen Broker würden Hinterbliebene dagegen über den gesamten Depotbestand verfügen und insgesamt besser dastehen, oder?
Michael Gassner:
“In meiner Berufspraxis habe ich von Einzelfallentscheidungen von Gelehrten gehört, die einen sogenannten Versicherungsmantel akzeptieren, unter der Bedingung, dass die Auszahlungssumme der Versicherung unter dem Wert des Vermögens liegt. Das heißt für solche Fälle, müsste schon der Anfangsbestand über der Versicherungssumme liegen. Eine allgemein verfügbare Fatwa, insbesondere mit islamischer Argumentation, ist meines Wissens nicht veröffentlicht.”
Solche Produkte werden mit einem „Steuervorteil“ beworben. Auszahlungen aus Lebensversicherungen, die vor 2005 abgeschlossen wurden, sollen vollständig steuerfrei sein. Dieser „Ersparnis“ ist nicht mehr das, was es einmal war. Nach meine Kenntnisstand wird bei aktuellen Verträgen die Hälfte der Gewinne besteuert. Zudem muss dafür der Vertrag min. 12 Jahren laufen und die Auszahlung erst nach dem 62. Lebensjahr erfolgen. Wir wissen auch, dass Versicherungsgesellschaften und Makler sich für solche Produkte auch ordentlich in Form von Verwaltungsgebühren und Provisionen ordentlich bezahlen lassen. Lohnt sich das ganze Konstrukt überhaupt noch – wenn ja, für wen? Was wäre ihre Empfehlung?
Michael Gassner:
“In der Tat ist der Steuervorteil eingeschränkt worden, es gibt wohl weiterhin Steuervorteile für Rentenversicherungen, für die ebenso Bedenken über die Versicherungskomponente aus islamischer Sicht gelten. Die Provisionen sind hierbei hoch. Die Faustformel: Junge Menschen unterschreiben einen Vertrag über vierzig lange Jahre, in dem sie sparen müssen. Die gesamte Sparsumme also beispielsweise 100 Euro monatlich mal 12 = 1200 Euro jährlich mal 40 Jahre sind 48‘000 Euro „Beitragssumme“ – hierfür muss vorab, meist in den ersten drei Jahren die Vertriebsprovision von ca. +/- 5% bezahlt werden, also 2‘400 Euro. Ähnlich hohe Kosten entstehen für Goldsparpläne, die das Gebührenmodell übernommen haben. Nur durch solche Vorabprovisionen ist es möglich, eine „kostenlose“ Beratung anzubieten, weil die Kunden nicht bereits sind, z.B. 500 Euro für eine unabhängige Beratung frei von Interessenskonflikten zu bezahlen. Letztlich ist das Provisionsmodell für den Kunden also viel teurer.”
Ich habe kürzlich selbst ein Kind bekommen und bin da auf der Suche nach einem Anlageprodukt, durch welches ich dem Kind eine finanzielle Basis schaffen kann. Es werden da auch solche Kindersparpläne im Rahmen von „fondsgebundenen Lebensversicherungen“ angeboten. Es ist eher unrealistisch, dass dort 62 Jahre eingezahlt wird. Was halten Sie von solchen Kindersparplänen im Rahmen von Lebensversicherungen?
Michael Gassner:
“Bei deiner Laufzeit von 15 Jahren und mehr lässt sich durchaus an einen einfachen ETF Sparplan mit iShares Islamic World oder Invesco denken. Die persönliche Situation und die eigenen Ziele sollten dabei vorab mit einem unabhängigen Berater wie bei den Verbraucherzentralen besprochen werden. In 2023 durfte ich Islamic Finance Themen bei einer internen Weiterbildung der Verbraucherzentralen in Deutschland präsentieren. Mein Wunsch für 2024 wäre es, wenn Muslime auf den guten, unabhängigen Rat achten und sich Grundkenntnisse beim Thema Finanzen aneignen.”